Inklusion in der Montessori-Geragogik
- Christine Mitterlechner

- 12. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Inklusion als wesentliches Element für die Lebensqualität älterer Menschen
in der Montessori-Geragogik
Der Begriff Inklusion wird von manchen Politikern und Politikerinnen gerne verwendet, um ihrer Klientel zu zeigen, wie aufgeschlossen und tolerant sie denken. Ich bin nicht sicher, ob sie alle den Begriff in seiner Komplexität und Tragweite erfasst haben. Inklusion im schulischen Kontext (gleichberechtigte Teilhabe und gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder) wird vor allem in Montessori-Schulen gelebt bzw. in schulischen Einrichtungen, an denen Montessori-Prinzipien umgesetzt werden.

a) Inklusion im Erwachsenenalter
Wir wissen, dass das Thema Inklusion nicht nur Kinder und Jugendliche betrifft, sondern dass es in jeder Altersstufe Menschen mit besonderen Bedürfnissen gibt und diese oft um soziale Teilhabe ringen müssen. Sie benötigen unsere Hilfe und Unterstützung. In der Montessori-Geragogik gilt unsere Zuwendung den alternden und sehr alten Menschen. Manchmal kämpfen sie mit körperlichen Behinderungen wie z. B. Hörverlust, Sehbehinderung bis zur Blindheit, Beeinträchtigung durch fehlende Gliedmaßen (z. B. Amputation durch Diabetes), chronischen Krankheiten, schmerzhaften Arthrosen, einseitiger Lähmungen nach einem Schlaganfall usw. Immer wieder werden Personen mit kognitiven Einschränkungen (es gibt viele Formen von Demenz) zur Herausforderung für ihre Familien und ihre Umwelt (meine Mutter war diagnostizierte Alzheimerpatientin, mein Vater hatte Parkinson).
In manchen Kulturen wurden und werden alte Menschen verehrt und gerade wegen ihres Alters (ihrer Erfahrungen) hochgeschätzt. Dagegen erlebe ich Unverständnis, Ungeduld und das Gegenteil von Empathie, wenn ich manchmal in unserer Gesellschaft abschätzige Bemerkungen über alte Menschen höre. Hier wird Exklusion und nicht Inklusion praktiziert.
b) Inklusive Erwachsenenbildung
Bildung ist ein wesentliches Mittel, um Lebensqualität und Gesundheit in der nachberuflichen Lebensphase zu erhalten oder auszubauen (Amann 2022). Der spezifische Ansatz der Montessori-Geragogik hat prinzipielle Ziele: ältere Menschen in ihren geistigen Fähigkeiten, ihrer Lebensfreude, Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit zu unterstützen und zu stärken. Durch die individuelle Gestaltung und Anpassung von Lernmaterialien können auch Menschen mit dementiellen Erkrankungen ihren Möglichkeiten entsprechend begleitet und in ihrer Lebenszufriedenheit gestärkt werden. Um gesund zu bleiben und Resilienz zu entwickeln, sind ausreichende Bewegung, gesunde Ernährung, soziale Kontakte und lebenslange Lernbereitschaft bzw. Lernen notwendig. Das Praxismodell der Montessori-Geragogik, L³M – Lebensbegleitend Lustvoll Lernen nach Montessori beinhaltet das sechsteiligen Phasenmodell „Freie Lernphase für Senioren“ und kommt damit diesen Forderungen bestens nach.
Wer in der Erwachsenenbildung tätig ist, muss sich auch mit dem Thema „Barrierefreiheit“ auseinandersetzen. Barrierefreiheit wird gewöhnlich auf bauliche Adaptionen reduziert, bezieht sich jedoch auch auf andere Dimensionen. Einer der wichtigsten Schritte, um zu einer inklusiven Erwachsenenbildung zu gelangen, liegt in der Überwindung geistiger Barrieren aufseiten der organisatorisch verantwortlichen Personen. Deshalb wird in den Lehrgängen „Montessori-Geragogik“ – Ausbildung zur Lernbegleiter*innen für Senior*innen nach Montessori-Prinzipien großer Wert auf die Ziele einer barrierefreien Erwachsenen- Senior*innenbildung gelegt (Paulweber/Platter 2016, Autorinnen des Factsheets, im Auftrag des Österreichischen Sozialministeriums):
„Die Sensibilisierung für die Wahrnehmung von Vielfalt und Diversität, sowie für die Bedürfnisse beeinträchtigter Menschen, wird gefördert
Die eigene Sozialisation und der Umgang mit Generationen, sowie Fremdheitsgefühlen, werden bearbeitet (Reflexion des eigenen Alters- und Kulturbegriffs)
Die Auseinandersetzung mit Altersstereotypen und deren Bewältigung ermöglicht die Reflexion eigener Werte, Haltungen und Normen
Vorurteile und Stereotype bzw. deren Dynamiken werden erkannt
Soziale Prozesse und Entwicklungen werden angestoßen.“
Ausgebildete L³M-Lernbegleiter*innen für Senior*innen nach Montessori-Prinzipien haben gelernt, dass sich Barrierefreiheit auch auf die Sprache, visuelle Unterstützung und die Mobilität bezieht (Mitterlechner 2022):
Sprache: langsames Sprechtempo, deutliche Aussprache, in die Augen sehen, nicht schreien (Schwerhörigkeit hat nichts mit Lautstärke zu tun, sondern mit Frequenzen, die nicht mehr gehört werden), einfache und kurze Sätze verwenden, Abkürzungen und Fremdwörter vermeiden bzw. erklären, Situationen beschreiben, nicht von hinten ansprechen, nachfragen, ob man sich klar ausgedrückt hat;
Visuelle Unterstützung bei Texten und Liedern (Flipchart-Plakate), Wegmarkierungen (Pfeile, Piktogramme), große dunkle Schrift auf hellem Hintergrund und umgekehrt sowie Bildmaterial bei schriftlichen Unterlagen, auf deren Übersichtlichkeit und Orientierungsfreundlichkeit achten, keine spiegelnden, reflektierenden Oberflächen verwenden (es gibt matte Folien), Lesehilfen (Lesebrillen, Lupen) zur Verfügung stellen, grafische Darstellung von wichtigen Dingen (z. B. Datum, Uhrzeit, Anleitungen);
Mobilität: Mögliche Sturzquellen beachten (lose Teppiche und Kabel beseitigen oder befestigen), nicht zu enge Sitzplätze und Sitzreihen, genügend Platz für Rollstühle, Gehhilfen, Rollatoren einplanen, Übungen situationsbedingt abwandeln.
L³M-Lerngleiter*innen (sie arbeiten mit Senior*innengruppen) und L³M-Trainer*innen (sie vermitteln Inhalt und Praxis in Montessori-Geragogik-Lehrgängen) sind selbst ständig Lernende, damit sie die Bedürfnisse Älterer und deren Gepflogenheiten besser verstehen und entsprechend reagieren können.
c) Auf welche Art und Weise leistet die Montessori-Geragogik einen Beitrag zur Inklusion älterer Menschen?
Die „Vorbereitete Umgebung“ spielt eine wichtige Rolle in der Montessori-Geragogik. Eine „Gestaltete Mitte“ dient der Themenfindung, eine Lernecke bietet einen Rückzugsort, die Lernmaterialien (stabil, mit großer Schrift, mit einfachen und schwierigen Aufgabenstellungen, ästhetisch, sowohl für Rechts- als auch Linkshänder geeignet, versehen mit Lernkontrolle) fordern zur Aktivität, zum „Tun“ auf.
Das 6-Phasen-Modell (Freie Lernphase für Senior*innen) nimmt auf besondere Bedürfnisse der teilnehmenden Älteren Rücksicht und hilft Ihnen dabei, sich angenommen, geborgen und wertgeschätzt zu fühlen.
Zum besseren Verständnis (auch wenn Ihnen die Freie Lernphase bekannt ist) skizziere ich den Inhalt und die Vorteile, die dieses Phasenmodell Älteren bringt:
1. Phase: Einstimmung und Aktivierung (ca. 10-15 Min.)
Sie beginnt mit einem Begrüßungsritual, das den älteren und alten Menschen vertraut ist. Dann folgt die Orientierung in der Lernumgebung. Die Einstimmung in das Tagesthema gelingt über die „Gestaltete Mitte“ und die Methode der Biografiearbeit. Daran schließt sich eine Aktivierungsübung mit Alltagsmaterialien an (Beweglichkeits-, Mobilisierungs-, Kräftigungs- und Koordinationsübungen), damit die Senior*innen körperlich und geistig „in Schwung kommen“, wobei die Verbindung mit einem Gedächtnistraining günstig ist.
2. Phase: Freie Wahl der Arbeit
In dieser Phase werden jeweils die geragogischen Materialien vorgestellt und es wird erklärt, wie damit umzugehen ist bzw. was sie bewirken, warum es Sinn ergibt, damit zu arbeiten. Diese Phase beinhaltet die Entscheidung für ein bestimmtes Arbeitsmaterial, die Sozialform, den Arbeitsplatz und das Zusatzmaterial. Voraussetzung: eine anregende Lernumgebung, die Aufforderungscharakter besitzt, in der Materialien und Aufgaben vorhanden sind, die von dem Senior*innen selbstständig bearbeitet und bewältigt werden können.
3. Phase: Durchführung der selbst gewählten Arbeit
Dabei wird der richtige Umgang mit den Lernmaterialien eingeübt. Das ermöglicht ein Sich-Versenken in eine Tätigkeit („Polarisation der Aufmerksamkeit“). Da jedes Material mit einer Selbstkontrolle ausgestattet ist, Arbeitstempo und Wiederholungen selbst bestimmt werden, kommt es zu einer Stärkung des Selbstvertrauens und der Ausdauer. Das soziale Miteinander wird positiv erlebt. Den heterogenen Senior*innengruppen kommt dieses individuelle Arbeiten sehr entgegen. Ca. zehn Minuten vor Beendigung der Freiarbeit werden den Teilnehmer*innen ein akustisches und ein visuelles Signal gegeben, damit sie in Ruhe ihre Arbeit zu Ende führen können. Die Materialien werden an den Aufbewahrungsort (z. B. Regale, Tischflächen, Kasten) zurückgebracht, danach kehrt jede/jeder zum angestammten Platz (der vehement verteidigt wird) zurück.
4. Phase: Stillephase
Ein Zeitraum für Stillehalten, für geistiges und körperliches Ausruhen und Meditieren im weitesten Sinn. Diese beginnt mit der körperlichen Vorbereitung: Einnehmen einer Stillehaltung (wird angeleitet). Es folgt die meditative Phase: Hören von Entspannungsmusik oder erzählten Phantasiereisen. Danach folgt die Stille der Bewegung: „Das Gehen auf der Linie“ (die Ellipse klebt auf einer rutschfesten Unterlage). Trainiert werden die Körpergeschicklichkeit, der Gleichgewichtssinn sowie die Konzentration. Dies kann als Sturzprophylaxe gesehen werden. Die Stille der Bewegung ist nicht mit allen älteren Menschen in dieser Form möglich!
5. Reflexionsphase
Sie bietet den Teilnehmer*innen die Möglichkeit, Ergebnisse ihrer selbst gewählten Arbeit zu präsentieren, von Empfindungen und Fantasien zu erzählen, über positive Erfahrungen, aber auch über Misserfolge zu berichten (gilt sowohl für Material- als auch für Sozialerfahrungen). Es gibt keinen Zwang, sich vor dem Plenum zu deklarieren. Wenn bei der Reflexion ein Redegegenstand weitergereicht wird (z. B. ein glatter Stein, oder eine Glaskugel, eine Blume, …) empfinden Senior*innen das als hilfreich (das „Wuzeln“ eines Gegenstandes beruhigt und erleichtert das Sprechen). Wer nichts beitragen möchte, gibt den Redegegenstand einfach an den /die Sitznachbar*in weiter.
6. Seelenstärkung und Ausklang
Da gilt es zuerst den äußeren und inneren Raum vorzubereiten, sich bewusst Zeit nehmen und sich Zeit lassen. Die Senior*innen sollen gestärkt aus der Freien Lernphase hervorgehen. Das erreichen wir z. B. durch die Arbeit mit Bildern, elementaren Symbolen, Metaphern, Musik und Ritualen, Vorlesen, Hören und Erleben von speziellen Texten, durch Hantieren, Spüren, Befühlen von Naturmaterialien etc. Im besten Fall korrespondieren wir mit dem Thema der Aktivierungsphase. Den Abschluss bildet immer ein Verabschiedungsritual.
d) Resümee
Die positiven Erfahrungen mit Freien Lernphasen für Senior*innen in den vergangenen zwanzig Jahren, beflügeln L³M-Lerngleiter*innen und L³M-Trainer*innen, sich weiter für diese inklusive Bildung für ältere Menschen einzusetzen. Das bedeutet aber auch, die ständige Adaptierung der Inhalte von Freien Lernphasen in einer sich permanent veränderten Welt anzustreben, um sie für ältere Menschen passend zu machen. Wenn inklusive Bildung in der Montessori-Geragogik gelingt, dann bedeutet sie erhöhte Lebensqualität und mehr Lebenszufriedenheit für die alten Menschen. Wir bemühen uns jedenfalls
Senior*innen mit oder ohne Einschränkungen ernst zu nehmen
ihre Würde zu wahren
ihnen soziale Teilhabe zu ermöglichen
sie in ihrem „Sein-dürfen“ zu unterstützen
sie respektvoll/liebevoll zu begleiten und nicht zu bevormunden!
Das oberste Ziel in der Montessori-Geragogik heißt, den Menschen zu stärken! Für die Erreichung dieses Zieles werde ich mich, so lange ich kann, mit aller Kraft einsetzen!
Christine Mitterlechner




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